Kieler Nachrichten 03.05.2013 (Teil INKIEL)

Caulius und die Rettung der Welt

Man kennt sie ja, die Menschen, die durch Kiel laufen, nur auf ihr Smartphone starren und dann erst an einem Laternenpfahl zum schmerzhaften Stehen kommen. Schade, denkt man da als Passant, da geht jemand durch die schönste Stadt der Welt und alles, was er (oder sie) davon hat, ist die Ansicht einer Facebook-Seite oder ein Whatsapp-Chat.

Doch weit gefehlt. Es kann auch ein Mensch sein, der gerade im Begriff ist, die Welt zu retten und dabei mehr Sehenswürdigkeiten von Kiel erkennt, als selbst Alteingesessene (die noch die Gondel über dem Bootshafen aus eigener Anschauung kennen) aufzählen könnten. Ingress heißt das Spiel, das auch in Kiel Jung und Alt von Statue zu Brunnen hechten lässt. Mit Googles Segen tobt seit Ende 2012 der Kampf zwischen den grünen Erleuchteten und dem blauen Widerstand – auch jeweils gegenseitig verächtlich „Frösche“ gegen „Schlümpfe“ genannt. Es geht um die Macht über eine neuartige Energie, die sich wiederum über Portale verbreitet. So will es die Ingress-Geschichte. Mehrere Dutzend dieser Portale finden sich auch im Kieler Stadtgebiet. Wer bisher achtlos durch die Innenstadt gestreift ist, muss nun umlernen. Was für den flüchtigen Beobachter wie eine Statue oder Skulptur aussieht, ist in Wirklichkeit ein heiß umkämpfter Zugang zur neuen Energie. Der Geistkämpfer bei der Nikolaikirche, der Flötenspieler auf dem Holstenplatz oder auch Adam und Eva am Germaniahafen – alles Teil eines großen Spiels.

Ingress wird als App auf dem eigenen Handy installiert und nach der Wahl zwischen den beiden Parteien kann es schon losgehen. Man sucht sich auf einer Karte ein nahegelegenes Portal heraus und begibt sich physisch in dessen Nähe. Augmented Reality nennt sich das, wenn Online und Offline verwischen. Haben Handy und Spieler eine Sehenswürdigkeit (sprich ein Portal) in Griffweite, so kann man so einiges damit anstellen. Getreu dem Motto „Ist das Kunst oder kann das weg“ können Portale besetzt, bekämpft oder auch übernommen werden. Portale werden mit „Resonatoren“ verstärkt und mittels Schlüsseln zu Gebieten verbunden. Auch virtuelle Gegenstände finden sich hier und so entwickelt man sich fort, erwirbt neue Fähigkeiten und erreicht neue Stärke-Ebenen (sog. „Level“). All das geschieht nur auf den Servern von Google und wird den Spielern auf ihren Handys eingeblendet. Der gemeine Kieler sieht nur weiterhin die Sehenswürdigkeit – wenn er denn überhaupt hinschaut.

Was teure Marketing-Bemühungen und Touren für Kreuzfahrer nur mühsam schaffen, wird hier nicht nur zur virtuellen Realität: Menschen, die aus vielen Teilen der Welt anreisen, um dem Kaiser-Wilhelm-Denkmal ganz nah zu sein. Okay, vielleicht nehmen sie es nur aus dem Augenwinkel wirklich wahr, aber das Bild auf dem Display des Smartphones ist eventuell eh bei besserem Wetter aufgenommen.

Live sind die Spieler stets über das Geschehen in Kiel und der Welt informiert und können sich koordinieren. Sieht etwa einer nachts, dass die gegnerische Seite Portale auf dem Rathausplatz angreift, dann braucht es nur wenige Klicks, die eigenen Leute zur Fahrt in die Innenstadt zu mobilisieren. Ganze neue Chancen ergeben sich daraus, die Kieler Innenstadt auch nach 20 Uhr mit Leben zu füllen – auch außerhalb der Kieler Woche.

Die Anfänger dürfen sich übrigens im Schloßgarten austoben. Das ist das Småland mit Level-1 Bällebad der Kieler Ingress-Szene. Die Profis treffen sich derweil zum großen gemeinsamen Portalbau. Was der Fußball bisher verhindert hat, das wurde mit Ingress Realität: Ein Dutzend Lübecker und Kieler vereint aufgereiht am Kleinen Kiel, gemeinsam die Handys auf die Weltkugel der IHK gerichtet und ein Mega-Portal erschaffen. Für wenige Stunden leuchtet plötzlich auf der Ingress-Weltkarte ein Stern an der Ostsee-Küste von Schleswig-Holstein auf und stellte Kiel in eine Reihe mit New York, Sidney und Tokio. Kiel schrieb Weltgeschichte und kaum einer hat es bemerkt.

Vielleicht wird die Nachwelt erst zu würdigen wissen, dass damit nach dem Matrosenaufstand 1918 wieder mal eine (Welt-) Revolution von Kiel ausging. Wenn auch nur virtuell.

Wir sehen uns zum Showdown beim Meteor-Denkmal in Düsternbrook.

Euer und Ihr

Caulius